Guachochi – Kirare – Batopilas – Basihuare – Creel
Die Kupferschlucht wartet. Die "Barranca del Cobre" ist bis zu 1800 m tief und 50 km lang. Dieses Schluchtensystem ist eines der größten Nordamerikas und insgesamt sogar viermal so groß wie der Grand Canyon in Arizona! Seinen Namen verleiht es dem „piedra cobriza", einem kupferfarbenen Schluchtengestein.
Gegen 08:00 Uhr am Morgen breche ich von Guachochi aus auf. Den gesamten Tag über ist es stark bewölkt und daher mit 28 °C recht angenehm im Vergleich zu den vergangenen Tagen. Kurz nach Mittag erreiche ich die entscheidende Kreuzung, die mich in den Canyon hinab führen soll und sogleich ereilt mich eine negative Nachricht. Die Straße, die nach „Batopilas“, dem kleinen Ort am Boden des Canyons, führen soll, ist aufgrund von Bauarbeiten gesperrt. Das Schild sehe ich mit meinen eigenen Augen vor mir und dennoch will ich die sich daraus ergebenden Konsequenzen für mich nicht wahrhaben. So laufe ich in ein Straßenrestaurant und erkundige mich nach den angeblichen Bauarbeiten. Die Straße würde für die bevorstehende Asphaltierung vorbereitet werden, für Autos ist es völlig ausgeschlossen im Moment in den Canyon zu fahren. Mit dem Fahrrad sei es dagegen kein Problem. Ich vertraue dieser Aussage, gerade auch weil ich doch so gerne einen Einblick in diese Schlucht bekommen möchte und fahre los. Die zweite Aussage der Mexikaner, dass mein weiterer Weg „alles bergab“ verlaufen würde, stellt sich schnell als eine Unwahrheit heraus. Es ist hügelig und das ist sogar noch eine untertriebene Bezeichnung. An einigen Stellen muss ich aufgrund der starken Steigung schieben. Meine Motivation sinkt im gleichen Zuge wie der Wasserspiegel in meinen Trinkflaschen. Ich entdecke eine winzige Häuseransammlung und schöpfe Hoffnung, dass ich hier mein Wasser auffüllen kann. Die Bauarbeiter besitzen nur Cola zum Trinken und eine einheimische Frau im anliegenden Haus weigert sich doch gar mir mit Wasser auszuhelfen. Mein unbefriedigtes Verlangen steigert sich in Zorn. Dies ist das erste Mal, dass mir Wasser so offensichtlich verweigert wird. Versteht denn hier niemand, dass ich unbedingt meinen Vorrat auffüllen muss, um mein Ziel erreichen zu können, ja dramatisch ausgedrückt könnte man sagen, um überleben zu können. Ich laufe zurück zu den Cola trinkenden Bauarbeitern und verdeutliche meine Lage. Tatsächlich finden meine eindringlichen Worte Gehör bei zumindest einem der Herren und er zieht mit meinen beiden Trinkflaschen los. Wortlos übergibt er mir wenig später zwei randvolle Behälter zurück. Das Wasser sei zur Zeit abgestellt worden und würde eventuell am später Abend erneut angeschlossen werden. Daher habe man mir den Zugang zu dem kühlen Nass verweigert. Hier müsse eben jeder selber sehen, wo er bleibe.
Geschwind mache ich mich auf den Weiterweg, diesen Ort möchte ich so schnell wie möglich hinter mir lassen. Nach guten 100 Tageskilometern erreiche ich „Kirare“. Eine weitere kleine Häuseransammlung vor der großen Abfahrt in den Canyon. Für heute reicht es mir mit dem Fahrrad fahren und ich darf mein Zelt hinter einem der Häuser aufstellen. Einen kleinen Laden gibt es direkt um die Ecke und so decke ich mich mit Lebensmitteln ein, um etwas zu kochen. Ich bin mir sicher, dass hier noch nie ein Tourist über Nacht gehalten hat. Die Kinder sind neugierig auf die fremde weiße Person aber trauen sich nicht so recht auf mich zu zugehen. Mir dagegen fehlt heute jegliche Kraft für Konversationen und so lege ich mich nachdem ich gekocht und gegessen habe schlafen.
Vor der Schule spielen die Kinder schon Basketball. Das ständige Pritschen des Balles auf Asphalt weckt mich aus meinem tiefen Schlaf und lässt mich zum Aufstehen, Zeltabbauen und Abfahren vorbereiten. Die Einheimischen hier gehören der indigenen Ethnie der „Tarahumara“ an. Sie tragen außergewöhnliche Kleidung. Voluminöse Faltenrücke und Blusen aus großgemusterten, farbenfrohen Stoffen bei den Frauen und Mädchen. Eine Art weißer, dreieckiger Lendenschurzrock bei den Männern und Jungen. Dazu eine einfarbige, oft grellorange Bluse. „Huaraches“, die traditionellen Sandalen aus Lederbändern, tragen sie alle gemeinsam. Verstehen kann ich sie sowieso nicht, untereinander sprechen sie eine uto-aztekische Sprache. Oft verstehen sie jedoch auch ein wenig Spanisch.
Kurz nach meinem Aufbruch erreiche ich die Kante, die hinunter in den Canyon führt. Der Ausblick von oben ist gigantisch und meine Vorfreude auf die bevorstehende Abfahrt steigt. Wahnsinnig steil geht es hinab, bis ich den Fluss „Rio Batopilas“ erreiche. Danach geht es in einem ständigen Auf und Ab bis „La Bufa“. Plötzlich ist Schluss mit der Weiterfahrt. Ich habe den Arbeitsbereich der Baustellenfahrzeuge erreicht und muss mich auf eine zweistündige Wartezeit einstellen. Zum Glück gibt es hier einen kleinen „tienda“ und ich kann eine kalte Apfelschorle genießen. Für mich ist es unfassbar, dass hier wirklich versucht wird diese komplizierte Streckenführung zu asphaltieren. Ursprünglich war geplant, dieses Bauvorhaben vor den neuen Präsidentschaftswahlen im Juli diesen Jahres fertiggestellt zu haben. Für mich sieht es eher danach aus, als wenn das Ganze noch Jahre dauern würde. In einem Gespräch mit den Bauarbeitern vor Ort erfahre ich, dass auch sie mit zumindest einem weiteren Jahr an Arbeit rechnen. Um 13 Uhr, in mörderischer Mittagshitze mit 45 °C wird die Strecke für den Verkehr freigegeben. Fünf Fahrzeuge wollen das Baustellenhindernis ebenfalls passieren und alle bleiben wir nach kurzer Zeit im steilen, sandigen und steinigen Gelände stecken. Bei den Autos drehen die Räder durch, ich dagegen kann mein Rad vorbeischieben. Wenn das nur mal so einfach wäre. Wenige Meter später verlässt mich meine Kraft und einige der Bauarbeiter kommen mir zu Hilfe. Gemeinsam schieben wir mein schwer beladenes Gefährt den Hang hinauf. Als erste bin ich also oben und kann weiter fahren. Nach 15 Minuten überholen mich die Fahrzeuge aber wieder. Sie haben es doch noch irgendwie durch diesen Sand geschafft. Meine zweite Tageshälfte ist wesentlich anstrengender als die Abfahrt am frühen Morgen. Am späten Nachmittag stehen allein 40 km in 4 ½ Stunden Fahrzeit auf dem Tacho. Dazu ging es von 2300 m Höhe auf 600 Meter über dem Meeresspiegel hinab. Diesen Angaben zufolge hätte die Fahrt ein Kinderspiel sein müssen.
Ich treffe auf einige Tarahumara in ihrer traditionellen Bekleidung. Auf mich wirken sie nahezu wie Indianer aus dem Bilderbuch. Weite Strecken legen sie mit Transportarbeiten zurück. Dazu binden sie sich ein Lederband um die Stirn und tragen schwere Lasten wie Wasser, Cola und Bier in einem Sack auf dem Rücken. Sie sind für ihre Fähigkeit Langstreckenläufe durch Wüsten, Schluchten und Berge zu unternehmen bekannt. Daher stammt auch die Bezeichnung der Männer als „Rarámuri“ (Jene, die schnell laufen). Ein weiterer Herr begegnet mir auf einem schwer beladenen Esel. Als ich ihn nach dem „Wohin“ frage, erzählt er mir, dass er in den Bergen Gold wäscht.
Erschöpft fahre ich in Batopilas ein. Einem Dorf von gerade einmal 2000 Einwohnern. Dem einzigen weit und breit. Es erinnert mich ein wenig an „Mompos“ in Kolumbien. Es ist ebenfalls schwül-heiß, die Häuser bunt gestrichen. So weit ab vom Schuss wie nur möglich hat es sein ganz eigenes Flair und bildet eine kleine Oase in der ihm umgebenden, ursprünglichen, rauhen Kupferschlucht. Gleich an der Plaza finde ich ein herrliches Hotel. Es gibt sogar einen Innenhof mit eigenen Mangobäumen. Ich kann mein Glück kaum fassen und bin zudem der einzige Tourist weit und breit. Die Inhaberin weiß sofort, dass ich Europäerin bin, denn sie erklärt mir „dass der Amerikaner von Dezember bis Ostern kommt, der Europäer hingegen das ganze Jahr über“.
Am folgenden Tag fahre ich zur Kirche „Iglesia de Satévo“. Herrlich im Canyon, direkt am Fluss gelegen, hat sie sicherlich eine einzigartige Lage. Das Gebäude an sich ist dagegen weniger spektakulär anzusehen. Kinder springen vom Felsen direkt in den Fluss und suchen eine Abkühlung. Kein Wunder bei 45 °C um 11 Uhr am Morgen. Eine alte Wassermühle quietscht vor sich hin, Kühe und Ziegen befinden sich auf dem einzigen Schotterweg, der nach Batopilas führt und Kinder laufen mir lachend mit Autoreifen entgegen, die sie flink vor sich her treiben. Ich fühle mich mal wieder in eine ganz andere Welt versetzt.
Für jegliche Aktivität ist es gegen Mittag und auch am Nachmittag viel zu heiß, sodass ich meine Wäsche wasche, im Innenhof des Hotels relaxe und dem Schreiben meiner Reiseberichte nachgehe. Kaum nimmt der Wind am frühen Abend zu, kommt ein Jeder aus den Häusern und man trifft sich an der Plaza. Rundherum fallen dabei platschend die Mangos von den Bäumen. Für mich ist jede dieser köstlichen Früchte ein Geschenk. Für die Bewohner dieses Ortes sind sie dagegen Normalität und vielleicht am besten mit Äpfeln in Deutschland zu vergleichen. Abends treibt es die Frauen zum Waschen an den Fluss. Stundenland reiben sie ganze Armladungen voller Kleidung über die großen Steine. Die Kinder spielen derweil im Wasser und die Männer schauen bei allem einfach nur zu oder nehmen auch ein kühlendes Bad.
Von meinem Erkundungsgang zurückgekehrt, betrete ich mein Zimmer im Hotel und mache eine unerfreuliche Entdeckung. Die Putzfrau erwische ich doch glatt dabei, als sie sich mit meiner Zahnbürste die Zähne putzt! Mitsamt Zahnbürste fordere ich sie sofort auf den Raum zu verlassen und nachdem ich abgesperrt habe mache ich mich auf den Weg, um Ersatz zu besorgen. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Doch solange es nur meine Zahnbürste ist…
Ich will wieder raus aus der Hitze hier und benötige einen Bus, der mich mitnimmt. Aus eigener Kraft würde ich die Ausfahrt aus diesem Canyon mit meinem bepackten Fahrrad niemals schaffen. Es ist einfach viel zu steil. Zudem müsste ich für einige Tage Wasser transportieren. Der nächste Ort befindet sich nicht in Tagesdistanz und Naturquellen von denen ich Wasser abfiltern könnte, gibt es zu dieser Jahreszeit keine. Doch es gibt keinen Bus für den morgigen Tag. Ein Herr des Roten Kreuzes, den ich bei meiner Abfahrt in den Canyon getroffen habe, gibt mir dagegen den Hinweis, dass zwei Ingenieure im Privatauto morgen hochfahren werden und mich eventuell mitnehmen könnten. Aufgrund der Bauarbeiten müsste jedoch ein großer Umweg gefahren werden. Mir ist derweil alles recht und so vereinbare ich, dass ich um 7 Uhr am Morgen abfahrbereit am Hotel warten werde.
Pünktlich erscheint mein Helfer des Roten Kreuzes und gemeinsam laufen wir zum Haus der beiden Ingenieure. Kein Auto parkt vor der Türe. Die Beiden haben die Stadt wenig zuvor ohne mich verlassen.
Per „Walkie Talkie“ erreichen wir sie dann doch noch und mein Retter in der Not lädt schnell mein Rad auf seinen eigenen Pick-Up und fährt mich nach „Casas Coloradas“, wo die Ingenieure auf mich warten. Niemand scheint davon begeistert zu sein, mich mitnehmen zu müssen und da im Fahrzeug selber kein Platz mehr vorhanden ist, muss ich auf der Ladefläche auf dem Ersatzreifen Platz nehmen. Die Straße über „La Bufa“, meinem Hinweg von vor zwei Tagen, ist endgültig gesperrt und so müssen wir einen großen Umweg über mehrere Berge und Schluchten auf der anderen Seite des Canyons in Angriff nehmen. Es ist die absolute Höllenfahrt meines Lebens! Der Fahrer scheint es eilig zu haben und tritt aufs Gaspedal. Derweil hüpfe ich auf meinem Platz durch die Gegend und weiß gar nicht, wo ich mich festhalten soll, um nicht von der Ladefläche geschleudert zu werden. Zudem kommt alsbald die gnadenlose Sonne hervor. Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich draußen Platz nehmen müsste und habe daher auf jegliches Auftragen von Sonnencreme verzichtet. Der Sonnenbrand wird mir die kommenden Tage arge Schmerzen bereiten. Dazu wirbelt der Pick-Up massig Staub von dem trockenen Untergrund auf. Von Kopf bis Fuß bin ich eingestaubt. Ich versuche mich jedoch rein darauf zu konzentrieren, dass ich mich nicht übergeben muss. Noch nie zuvor habe ich mich während einer Autofahrt so schlecht gefühlt und ich bin es gewöhnt im Fahrzeug rückwärts zu sitzen und dabei ein Buch zu lesen! Die beiden Fahrer im Führerhaus stoppen bei Gelegenheit, um Fotos von der umwerfenden Landschaft zu schießen. Auch sie gelangen nur selten in diesen Abschnitt des Canyons. Ich dagegen finde heute kaum Begeisterung für die Natur und lehne mit einem aufgezwungenen Lächeln das Angebot von Anti-Brech-Pillen ab. Auf die Idee, im Auto ein wenig Platz für mich zu schaffen und mich von dieser Höllenfahrt zu befreien kommt dagegen niemand. Lieber sitzt man mit ausreichend Beinfreiheit zu zweit in seinen breiten Polstersitzen und lässt sich von der Klimaanlage kalte Luft um die Ohren pusten. Ich muss heute dankbar sein, dass ich überhaupt mitgenommen werde und das fällt mir ganz schön schwer. Trotzdem verabschiede ich mich nach 4 ½ Stunden Fahrt mit einigen dankenden Worten von meinen beiden Fahrern. Ich kann gerade noch so von der Ladefläche kriechen und lasse mir mein Rad samt Gepäck angeben. Keine Sekunde später sind sie auch schon verschwunden. Sie müssen es tatsächlich sehr eilig gehabt haben.
Zum Glück gibt es an der Kreuzung eine Art Kiosk an dem ich mir den Staub vom Körper waschen kann. Eine Cola und ein Sandwich beruhigen meinen Magen und es geht mir sogleich um Einiges besser.
Wenig später sitze ich schon wieder im Sattel. Der Weg ist bergig, doch nun führt auch die Hauptstraße durch den Canyon und nicht mehr nur durch endlose Pinienwälder. Die beiden Schweizer Radler, Hannes und Annelies (www.loslo.net), haben mir den Tipp gegeben, dass nach ca. 30 km ein Haus kommen soll, in dem ich Getränke und sogar einige Burritos kaufen kann. Als ich es erreiche ist es leider zu. Ich entschließe mich ins 2 km entfernte, über eine einsame Schotterpiste erreichbare „Basihuare“ zu fahren. Es ist zwar noch früh am Nachmittag (16:30 Uhr), doch der Morgen war anstrengend und erlebnisreich genug. Ich brauche eine Pause. Im winzigen Dorf gibt es ein Geschäft und ich darf dahinter mein Zelt aufbauen. Unter zahlreichen Kinderaugen schaffe ich das auch wenig später und nachdem auch mein Magen gefüllt ist, heißt es Ausruhen! Schlafen kann ich jedoch nicht wirklich und so mache ich mich bald auf den Weg zum Schulhof. Hier hat sich nahezu das gesamte Dorf versammelt. Groß und Klein spielen zusammen Basket- oder Volleyball. Der Platz ist überfüllt, doch niemand scheint sich daran zu stören, ganz im Gegenteil hat jeder seinen Spaß beim Abendsport. Mir fällt auf, dass fast keines der Kinder geschlossene Schuhe an seinen Füßen trägt. Abermals trägt man die traditionellen Ledersandalen oder läuft gar barfuß umher. Gerade einmal 40 Familien leben hier. Später findet eine Essensausgabe in dem Schulgebäude statt und ich entdecke, dass die Schule sogar mit mehreren Schlafräumen und zahlreichen Stockbetten ausgestattet ist. Es ist so ein Ort, an dem ich für eine längere Zeit stoppen müsste, um den Kontakt zu den Einheimischen herstellen zu können. Zu gerne würde ich ihre Lebensgeschichte verstehen, ihre Gedanken, Sorgen und Nöte kennen lernen. Einige wenige Stunden erlauben es mir nicht, die Schranke zwischen indigener Bevölkerung und Tourist zu brechen. Ich bin mir sicher, dass es hier eine Menge zu erzählen gäbe und man durch ein Fotoprojekt Aufmerksamkeit in den Medien erzielen könnte, um Spendengelder zu sammeln. Dass es hier an finanziellen Mitteln fehlt, kann ich schon durch ein erstes, kurzes Umsehen feststellen.
Einzelheiten über das indigene Dorf gibt es hier:
http://www.de.nuestro-mexico.com/Chihuahua/Guachochi/Areas-de-menos-de-500-habitantes/Basihuare/
Am Abend kündigt sich ein Gewitter an und kurz darauf plätschern schwere Regentropfen auf mein Zelt. Endlich! Es tut so gut, den Regen riechen und spüren zu können. Die Außentemperatur kühlt somit zumindest ein wenig ab und der staubige Boden wird fester. Lange habe ich keinen Regen mehr gehabt und merke erst jetzt, wie sehr ich ihn vermisst habe.
45 km trennen mich noch von „Creel“, dem Ausgangspunkt der Touristen, für Abstecher in den Canyon. Es ist eine Kleinstadt in einem des am höchstgelegenen Teils der „Sierra Madre Occidental“ im mexikanischen Bundesstaat Chihuahua. Die Bahnstrecke des „Ferrocarril Chihuahua al Pacífico“ führt direkt durch den Ort. Sie gilt als eine der spektakulärsten Eisenbahnstrecken der Welt. Da ich die Schluchten der „Barrancas del Cobre“ schon per Fahrrad erkundet habe, verzichte ich auf dieses Touristenangebot und höre nur ab und zu den Zug in den Ort einfahren. Creel selber ist dagegen weitgehend unspektakulär. Natürlich gibt es einige Artesania-Geschäfte, um den anreisenden Touristen Souvenirs anbieten zu können. Mich erwartet dagegen in einem Hotel eine freudige Überraschung. Hannes und Annelies, die beiden Schweizer, die eine Woche zuvor ebenfalls hier waren, haben mir zwei ihrer Bücher zurückgelassen und ich habe seit langer Zeit mal wieder etwas Deutsches zum Lesen.
Sogleich tauche ich in eine völlig andere Welt ein. Das Buch „Ihr sollt die Wahrheit erben“ von Anita Lasker-Wallfisch versetzt mich in die Zeit des Holocaust in Deutschland. Es berichtet über ein deutsch-jüdisches Familienschicksal und eine Kindheit als Cellistin im Mädchen-Orchester von Ausschwitz. Zeiten, die längst vergangen sind und zur historischen Geschichte gehören. Dennoch gehören sie zum Erbe eines jeden Deutschen. Denn wer erst einmal ins Ausland reist, wird feststellen, dass viele Einheimische eine/n Deutsche/n besonders mit Hitler und der Zeit des Krieges konfrontieren werden.
Am nächsten Tag wird geruht. Ein kurzer Ausflug führt mich ins naheliegende „Valle de los Hongos“ (Tal der Pilzköpfe) und zur „San Ignacio“ Kirche. Tatsächlich ähneln einige der Steinformationen vom Aussehen her der Gestalt von Pilzen. Dazwischen laufen Tarahumara-Indianer umher und versuchen Artesania an die Touristen zu bringen. Dabei bin ich heute alleine unterwegs und weil momentan Nebensaison ist, finden die Verkäufer kaum Abnehmer für ihre handgemachten Produkte. Viele von ihnen wohnen übrigens in Höhlen, direkt hinter beziehungsweise unter gigantischen Steinformationen. Dies ist ihr traditioneller Lebensstil.
In „San Ignacio“ werde ich Zeuge einer aktuellen Werbekampagne für die kurz bevorstehenden Präsidentschaftswahlen. Das Vorgehen der Wahlkämpfer entsetzt mich derart, dass ich das Dort schnell wieder verlasse. Mit einem großen Pick-Up fahren sie zum Hauptplatz vor. Auf den ersten Blick erkennen sie natürlich, dass ich mich als einzige Touristin dort befinde und laufen direkt auf mich zu. Überschwänglich werde ich begrüßt und muss mindestens fünf Personen die Hand schütteln. Im Anschluss laufen sie zu den Einheimischen hinüber und verteilen Plastikbecher sowie Handzettel. Die Geste eines Tarahumara-Herrn bringt mich dann doch noch zum Lachen. Er fordert von seinem Gegenüber im Anzug ein Getränk für seinen neuen Becher. Was soll er mit dem Plastikding auch sonst anfangen können?! Sogleich bekommt er seinen Wunsch erfüllt und auch ein Kind, welches mit ausgestreckter Hand einen Peso verlangt, hält wenig später die Münze in der Hand. Die Szene wirkt mehr als nur grotesk und es wird klar, dass hier um jede einzelne Stimme geworben wird. Dabei frage ich mich, wieviele andere Parteien zuvor diesen Ort schon aufgesucht haben mögen. Kopfschüttelnd fahre ich davon.
Der Aussichtspunkt „Christo Rey“ bietet mir einen tollen Überblick über die Stadt. Erst hier fällt einem so richtig ins Auge, dass sich tatsächlich alles an den Bahnschienen, die den Ort durchqueren orientiert. Creel befindet sich in einem langgestreckten Tal.
In meinem günstigen Hostal treffe ich bei meiner Rückkehr dann doch noch auf einen europäischen Touristen, bevor ich den Ort wieder verlasse. Den Abend verbringe ich gemeinsam mit dem 34jährigen Belgier „Nick“, der seit fünf Jahren durch die Welt reist und nun versucht mit seiner mexikanischen Freundin, die zur Zeit noch in Guadalajara studiert, nach Europa zurückzukehren. Großzügig spendiert er mir ein Abendessen und wir erzählen über unsere bisherigen Reiseerlebnisse. Ich bin dankbar, dass sich genau an diesem Tag unsere Wege gekreuzt haben, denn manchmal brauche ich einfach jemanden zum Austauschen und Zuhören. Meistens bin ich ja für mich allein unterwegs.