Yellowstone National Park/Madison Campground – Upper Red Rock Lake – Lima – Cross Ranch – Wise River – Butte – Helena – Little Prickly Pear Creek – Harry Morgan Campground – Seeley Lake – Post Office Condon – Ferndale – Glacier National Park/Lake McDonald – Whitefish – Red Meadow Lake – Eureka – Rooseville/Grenze Kanada
Pancakes (Pfannekuchen), Eier, Speck und Kaffee – was man in einem Wohnanhänger so alles zum Frühstück zubereiten kann. Mein üblicher morgendlicher Einheitsbrei wird um ein Vielfaches übertroffen. „Life is good" (Das Leben ist schön) heißt es auf dem Radüberzug von Lisas Wohnanhänger vor dem wir für ein Abschiedsfoto posieren. Treffender kann ich meine Hochstimmung nicht zum Ausdruck bringen.
In „West Yellowstone“ stoppe ich noch einmal kurz um das Internet zu nutzen und Proviant aufzufüllen. Dann überquere ich auch schon die Grenze in den Nachbarbundesstaat „Idaho“. Bei dem großen Schild, das mir den Wechsel in den neuen Bundesstaat ankündigt, stoppe ich kurz für ein Foto und treffe auf vier ältere, amerikanische Touristen. Von einem Senior werde ich gefragt: „Aren't you lonesome?“ (Fühlst du dich nicht einsam?) und antworte keck: „Why? I meet guys like you every day.“ (Warum? Ich treffe jeden Tag auf solche Leute wie euch.). Alle brechen wir gemeinsam in schallendes Gelächter aus. Später muss ich über den Satz jedoch noch einmal nachdenken und meine spontane Antwort revidieren. Natürlich bin ich auch oft einsam, wünsche mir einen Reise-Gefährten zum Quatschen, um die Erlebnisse zu teilen. Doch diese Reise als junge Frau alleine durch Amerika ist auch gerade deshalb so einzigartig und erlebnisreich, weil ich sie alleine unternehme. Alleinsein öffnet Türen. Alleinsein suggeriert Schutzbedürftigkeit und bringt mich in den unmittelbaren Kontakt zum Land und seinen Menschen. Alleinsein bedeutet nicht nur Einsamkeit, sondern bringt auch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich mit sich. Alleinsein macht oft verwundbar und stärkt einen mit der Zeit doch umso mehr.
In „Idaho“ verbringe ich nur ein paar Stunden, kurz darauf betrete ich „Montana“ und bin zurück auf dem Great Divide Trail. Zurück zu Schotter, zurück zum Regen und zurück zu den Bergpässen. Nach dem 2170 m hohen „Red Rock Pass“ bin ich völlig nass und biege auf den Campingplatz ein. Außer ein paar Jägern habe ich den Stellplatz für mich. Die Sommer-Touristen haben sich in wärmere Gegenden verzogen, jetzt treffe ich nur noch auf Einheimische.
Am Morgen ist es neblig und alles ist nass. Ich schlafe weiter und mache mich erst um 09:45 Uhr auf den Weg. Eigentlich zu spät, um das kleine Örtchen „Lima“ erreichen zu können. Doch da muss ich heute einfach schneller treten. Landschaftlich fühle ich mich fast in das „Great Divide Basin“ zurückversetzt und bin froh, als ich auf „Jörg“ aus Stuttgart und „Etienne“ aus Quebec, Kanada (http://www.cycloexpeditionamericas.com) treffe. Beide sind sie auf dem Weg nach Ushuaia, Argentinien. Doch Zeit zum Plaudern bleibt herzlich wenig, ich muss die vertrödelte Zeit vom Morgen wieder gutmachen und beeile mich nun. Immerhin weiß ich, dass ich in Lima hinter einem Sandwich-Laden kostenlos zelten kann und mit dem Gedanken an ein schmackhaftes Baguette lässt es sich auch gleich viel flotter vorankommen. Der erst neulich eröffnete Laden „Mountain High Subs“ stellt zudem auch sehr gute Eiscreme her, die ich jedem nur empfehlen kann.
Für den kommenden Tag habe ich mir das Örtchen „Grant“ als Ziel ausgeguckt. Das ist dann allerdings ausgestorben und bis auf ein paar wütend bellende Hunde kann ich keine Menschenseele entdecken. Also weiter zur „Cross Ranch“, die ebenfalls auf der Karte markiert ist. Hier will man mich jedoch nicht aufnehmen. Gerade in diesem Jahr habe man schlechte Erfahrungen mit Radlern gemacht. Es gibt ein großes Hin und Her. Vor mir liegt eine riesige, gepflegte Anlage, doch man schickt mich von dannen. Nach 9 Stunden im Sattel und um 19:00 Uhr am Abend. Ich mag es nicht glauben und rede weiter auf die Frau ein. Irgendwie scheint sie dann auch einzusehen, dass es bei mir nicht wirklich etwas zu befürchten gibt und ich darf großzügiger Weise mein Zelt aufstellen.
Der folgende Streckenabschnitt ist langweilig. Kein Baum, kein Strauch – nichts. Da freue ich mich natürlich besonders, als ich zwei Radler erblicke. Die beiden Rafting-Guides aus Australien und Neuseeland haben auch schon nach mir Ausschau gehalten. Jemand muss ihnen von mir erzählt haben. Unter den Langstreckenradlern gibt es eben nur wenige Frauen, die alleine unterwegs sind. Nach der Abfahrt zum „Wise River“ verändert sich die Landschaft zum Positiven und wird abwechslungsreicher. Kurz vor 18:00 Uhr erreiche ich den Ort „Wise River“ und habe Glück, dass der Laden erst zehn Minuten später schließt.
- 4 °C! Es wird die kälteste Nacht bislang. Der Winter kommt mit großen Schritten. Ohne heißen Kaffee kann ich nicht auf das Rad steigen und zu aller erst muss ich einmal meine dicken Winterhandschuhe aus den Tiefen meiner Fahrradpacktaschen hervorholen. Die „Fleecer Ridge“ lasse ich aus und biege auf die alternativ angegebene Route ein. Den steilen Berg muss ich mir heute nicht auch noch antun. Kurz darauf biege ich auch schon wieder auf die Hauptstrecke ein und habe prompt mit einem ganz steilen Anstieg zu kämpfen. Mindestens drei Mal geht es bergauf und wieder bergab, bevor es endlich über das Continentale Divide führt. Mehrmals muss ich schieben. Bei Steigungen von 10-11 % auf einem schmalen Schotterweg kann man das aber verstehen. Dann geht es nach „Butte“ hinab und ich freue mich ganz besonders darauf „Lisa“ wieder zu treffen. Vor ein paar Tagen sind wir noch zusammen durch den Yellowstone Nationalpark gestreift und als wir uns voneinander verabschiedeten lud sie mich zu sich nach Hause ein. Die Wiedersehensfreude ist groß und die folgenden Stunden verbringen wir damit meinen Aufenthalt im „Glacier National Park“ zu organisieren. Da möchte ich nämlich auf jeden Fall noch hin, bevor ich die Grenze nach Kanada überquere und der Park ist Lisas Favorit.
Doch zuvor geht es nach „Helena“, wo „Heather“ wohnt, die ich ja ebenfalls im Yellowstone Nationalpark getroffen habe. Als ich in die Stadt einfahre und an einer Apotheke nach der Adresse frage, bekomme ich als Antwort ein: „Oh girl, you are at the wrong end of town.“ (Oh Mädchen, du befindest dich am falschen Ende der Stadt) zu hören. Ganz so schlimm ist die Lage dann aber doch nicht. Schließlich handelt es sich hier nicht um „Düsseldorf“, sondern um „Helena“ in Montana. Für die Einheimischen ist diese 30.000 Einwohner-Stadt jedoch die größte in weitem Umkreis und Hauptstadt des Bundesstaates. Wenig später sind wir alle auch wieder vereint und am Abend geht es zum Steak-Burger-Essen ins „Buffalo Wild Wings“. Der Burger ist riesig und schmeckt hervorragend, der Abend wird für einen Radler, der am nächsten Morgen wieder früh raus muss, allerdings ein wenig lang. Als ich endlich auf der Couch liege kann ich jedoch lange nicht einschlafen. Der im Laufrad rennende Hamster der Tochter macht mich fast wahnsinnig und ich frage mich, wie ich diesen Lärm selber einige Jahre zuvor aushalten konnte, als ich auch so ein Tier besessen habe.
Mit im Supermarkt aufgefüllten Taschen trete ich die kommende Strecke an. Es ist eine schweißtreibende Angelegenheit und gleich zwei Pässe erwarten mich. Ich habe den Eindruck, dass der Great Divide Trail immer anspruchsvoller wird, je mehr nördlich ich komme. Auch wegen der kurzen Nacht gestern bin ich wahrscheinlich so müde und hebe mir den dritten Pass dann lieber für ein anderes Mal auf. Hier am „Little Prickly Pear Creek“ treffe ich auf eine nette Dame, die mir ihre kleine „cabin“ (Bloghütte) zur Verfügung stellt. Außerdem kann ich bei ihr im Haus heiß duschen und bevor ich wieder in meine Hütte gehe, steckt sie mir noch selbstgebackene Müsliriegel zu. Heute bin ich froh, dass ich nicht draußen mein Zelt aufstellen muss. Eine Gruppe Quad-Fahrer hat mir am Nachmittag doch ein wenig Angst vor den Bären eingejagt und mir hilfsbereit den Unterschied zwischen Schwarzbären- und Grizzly-Kot erklärt. Wenn ich also auf flüssige, mit Beeren versetzte Fäkalien stoßen würde, wäre sicherlich ein Schwarzbär in der Nähe. Grizzlys würden dagegen eine eher festere und mit Samen versetzte Substanz ausscheiden. Den Hinweis auf meine Waffe, das Pfefferspray, belachen sie nur und ich bin mir nicht sicher ob die etwas angetrunkene Gruppe mich nur auf den Arm nehmen wollte oder es ihr ernst war. Wahrscheinlich sollte ich nachts eher Angst vor ihnen als vor einem Bären haben…
Anderntags bin ich froh, dass ich am Abend zuvor nicht weitergefahren bin. Dieser Pass hat es wirklich in sich. Für die 11 km brauche ich sage und schreiben 2 Stunden und 20 Minuten! Genauso steil geht es auf der anderen Seite auch bergab nach „Lincoln“. Hinter dem folgenden „Huckleberry Pass“ brennt sich Feuerrauch in meine Augen und der strenge Geruch eines naheliegenden Brandes beißt sich auch in meine Schleimhäute. Den genauen Ort des Brandes kann ich jedoch nicht ausmachen und hoffe nur, dass mein weiterer Weg nicht von dieser Naturkatastrophe abgeschnitten sein wird. Über einen Feldweg holpere ich dahin. Er ist in wirklich miserablen Zustand und das Waschbrett schüttelt mich gehörig durch. Wenn man möglichst schnell über diese gemeinen Bodenwellen fährt, ist es mit einem Fahrrad ohne Federung einigermaßen zu ertragen – doch oft ist das bei schlechtem Straßenzustand einfach nicht möglich.
Der Ort „Seeley Lake“ enttäuscht mich am nächsten Tag völlig. Eigentlich habe ich mich auf einen halben Tag Pause gefreut, doch ich brauche nahezu Stunden, um auch nur eine Internetverbindung auftreiben zu können. Im Café gibt es keines, die Bibliothek hat geschlossen und in der Eisdiele ist schlechter Empfang. Zu guter Letzt probiere ich es in einem Restaurant und habe doch noch Erfolg. Der Supermarkt ist zwei Meilen außerhalb des Ortes und sieben Dollar für ein Paket Weintrauben lassen mich noch lange an den Preisverhältnissen zweifeln. Der Campingplatz befindet sich dann wieder in der entgegengesetzten Richtung. Eine weitere Meile außerhalb. Immerhin finde ich ein schönes Plätzchen am See und das gibt es auch noch kostenlos, denn die Touristen-Saison ist schon beendet. Die Bären-Saison jedoch noch nicht und so ziehe ich meine Lebensmittel und Kosmetikartikel mit einem Seil auf einen Baum. Trotzdem bin ich mir unsicher, ob nicht meine Kleidung doch noch nach Essen riecht und ich auch wirklich all die Sonnencreme von meiner Haut entfernen konnte. Vielleicht rieche ich ja auch genau nach Bärengeschmack und liege hier auf dem Boden am See wie auf einem Präsentierteller. Die hauchdünne Zeltwand wird mir bei einem Angriff wohl nicht weiterhelfen können. Immerhin habe ich das Bärenspray griffbereit. Doch ich muss schon zugeben, dass es sich hier im Bärenland keinesfalls so unbesorgt schlafen lässt.
Von „Seeley Lake“ breche ich nach „Condon“ auf und treffe gleich auf den ersten Kilometern auf „Sam“ und „Katie“. Die Beiden sind die ersten Tandem-Mountainbiker, denen ich je begegnet bin. Allerdings kann ich es mir nicht vorstellen immer direkt hinter jemandem zu sitzen und dessen Rücken an Stelle des Weges anzugucken. Meine Konzentration richtet sich schnell wieder auf die Strecke. Mit dem letzten in der Karte eingezeichneten Pass hatte ich fälschlicherweise gedacht, das Gröbste an Anstiegen hinter mich gebracht zu haben. Doch welch ein Irrtum – jetzt heißt das Hindernis „singletrack“. Kurz darauf soll ich auch erfahren, was dies genau heißen mag. Bislang fuhr ich zwar meist auf Schotterstraßen, doch hier erwarten mich nun äußerst schmale Wege, die ein Passieren mit seitlich am Fahrrad herabhängenden Packtaschen nahezu unmöglich machen. Singletrack Nummer 1 ist an diesem Tag vielleicht gerade einmal 30 cm breit und nicht nur mein Gepäck hat darunter zu leiden. Auch meine nackten Beine werden völlig zerkratzt. Die letzten zwei Kilometer bis zum Gipfel schiebe ich, hier kann man höchstens wandern oder vielleicht mit einem unbeladenen Mountainbike fahren – mit dem Reiserad ist es unmöglich. Ich verlasse mich komplett auf mein GPS und bin froh es zu haben. Ohne die Bestätigung, dass das hier tatsächlich der richtige Pfad sein soll, wäre ich schon lange wieder umgekehrt. Bei der Abfahrt zischt es kurz in meinem Hinterreifen und ich bekomme einen Platten. Immerhin bin ich darin nun schon geübt und wechsle den Schlauch in rekordverdächtiger Zeit. Um 15:00 Uhr habe ich gerade einmal 40 km geschafft und bin schon ziemlich müde. Auch hieran merke ich den „singletrack“. An Nummer 2 an diesem Tag fahre ich dann glatt vorbei, nur mein GPS zeigt mir plötzlich an, dass ich mich auf dem falschen Pfad befinde. 1,5 km in die Gegenrichtung zeigen mir, dass ich an dem winzigen Waldpfad, auf den ich hätte einbiegen sollen, vorbeigefahren bin. Ein paar ältere Radspuren kann ich in der Erde sehen, die vermutlich von Sam und Katie stammen. Heute fühle ich mich eher in der Rolle eines Fährtenlesers als die eines Radfahrers. Ein ebenso unscheinbarer Pfad führt mich zu Singletrack Nummer 3. Hier treffe ich auf einen Jäger und seinen Hund. Der Mann schaut ein wenig verdutzt, als ich um die Ecke komme und ruft mir noch nach, ob ich nicht wüsste, dass ich mich hier in Bärengebiet befinden würde und dass ich ja auf mich aufpassen solle. Doch kurz darauf habe ich es geschafft. Das Schlimmste ist hinter mir und jetzt fahre ich auf dem Highway nach „Condor“. Beißender Feuerrauch steigt mir erneut in die Nase. Hier brennt es also. 5 Meilen nord-östlich dieses kleinen Ortes ist die Feuerwehr schwer mit ihrer Arbeit zu Gange. Von einer Feuerwehrhelferin erfahre ich, dass sich das Wetter jedoch schon in der kommenden Woche ändern soll. Es gäbe Regen bzw. den ersten Schnee. Für die Feuerwehrleute mag das eine gute Nachricht sein, ich hoffe dagegen noch auf ein paar trockene Tage. Kanada ist doch nun gar nicht mehr so weit, da kann sich der Winter bitte noch etwas gedulden.
Hinter dem Postamt zelte ich und am Morgen geht es zurück auf den Trail nach „Ferndale“. Das herabgefallene Herbstlaub raschelt unter meinen Reifen und die vorbeifahrenden „Logging-Trucks“ (schwere Holzfäller-LKW’s) stauben mich ein. So freue ich mich auf den bevorstehenden „Swan Lake“ und kann ihn dann vor lauter Bäumen noch nicht einmal sehen. In „Ferndale“ kann ich bei einer Familie zelten. Als ich das Gelände betrete schlägt ein ganzes Rudel wilder Huskies Alarm. „Basecamp Bigfork“ ist ein touristisches Unternehmen. Im Sommer werden Kajaks und Mountainbikes vermietet, im Winter geht es per Hundeschlitten durch die Wälder. Hundeschlittentouren – der Gedanke an dieses Wintervergnügen bestätigt mir, dass ich dem Norden ein deutliches Stück näher gekommen bin.
Ein weiterer Nationalpark steht jedoch noch auf meinem Programm. Es ist der „Glacier National Park“ im Norden Montanas. Zusammen mit dem „Waterton-Lakes-National-Park“, der sich schon in Kanada befindet, bilden beide den „Waterton-Glacier International Peace Park“. Sie sind das weltweit erste grenzüberschreitende Naturschutzgebiet und wurden durch die UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt.
Hier im Park sind sämtliche Einrichtungen Ende September schon geschlossen und zu meiner großen Enttäuschung ist auch der 2026 m hohe „Logan Pass“ gesperrt. Ursprünglich hatte ich gedacht über die für den Park berühmte „Going-to-the-sun Road“ und im Anschluss direkt in den Waterton Nationalpark fahren zu können. Doch dies ist nun nicht möglich und so muss ich nach meinem Besuch im Park dieselbe Straße wieder zurück nach „Columbia Falls“ nehmen und westlich an den Rocky Mountains vorbei fahren.
Doch das Wetter ist heute schön sonnig und warm und so breche ich zum „Mount Brown Lookout“ auf. In zahlreichen Serpentinen führt der Weg nach oben, doch die Ausblicke auf den großen „Lake McDonald“ See entschädigen. Als ich wieder unten am Startpunkt stehe halte ich schnell ein vorbeifahrendes Auto an und frage, ob man mich zum „Avalanche Lake“ mitnehmen könne. „Na klar“ heißt es, „steig einfach ein“. Durch uralten Zedernbestand schlängelt sich ein ausgetretener Waldpfad neben dem Fluss entlang und zum See hinauf. Dieser Abschnitt des Parks zählt die meisten Besucher und so wundert es mich nicht, als ich am Wasser dann auf einige größere Touristengruppen treffe. Die Aussicht ist allerdings bescheiden. Der Feuerrauch, dem ich schon zuvor in der Nähe von „Condon“ begegnet bin, ist auch von hier deutlich sichtbar und verhüllt die klare Luft mit dunklen Schwaden. Das Ufer ist ausgetrocknet und viele tote Baumstämme liegen herum. Der See wartet scheinbar auch auf den kommenden Winter.
Zurück zum Lake McDonald werde ich von einer Biologin im Auto mitgenommen und stehe wenig später wieder bei den dortigen Park-Einrichtungen. Über meine Freundin „Lisa“ aus „Butte“, Montana habe ich auch hier einen Kontakt vermittelt bekommen und so kann ich mir ein Zimmer in dem Park-Mitarbeiter-Gebäude mit „Margot“ teilen. Ihr Chef sieht das zwar nicht so gerne und drückt dann doch für drei Nächte die Augen zu. Im angrenzenden „General Store“ (kleiner Supermarkt) treffe ich durch Zufall auf Vater und Sohn: „Jeff“ und „Jeffrey“. Mit einem Ohr höre ich ihre Unterhaltung über eine geplante Autofahrt in den östlichen Teil des Parks mit und frage spontan ob ich mich da anschließen könne. Das müsse zunächst noch mit dem weiblichen Familienoberhaupt „Linda“ abgeklärt werden, doch später liegt ein Zettel an der Rezeption der Lodge, in der die Drei untergebracht sind, für mich bereit. Abfahrt 09:00 Uhr, ich sei herzlich eingeladen mitzufahren.
Juhuu! Jetzt bekomme ich also doch noch die Gelegenheit mir die andere Seite des Parks anzusehen. Mit der Fahrt über den bereits geschlossenen Pass wäre ich automatisch durch diese Gegend gekommen. Durch dessen Schließung wäre es nun allerdings ein riesiger Umweg gewesen, den ich mit Blick auf die fortgeschrittene Jahreszeit nicht eingehen will.
„Two Medicine Lake“, „Sankt Mary“, „Many Glacier“, „Apikuni Falls“ heißen unsere Highlights am kommenden Tag. Die Ost-Seite des Parks gefällt mir wesentlich besser als das Gebiet rund um Lake McDonald. Der Herbst ist hier aufgrund der größeren Höhe schon viel weiter fortgeschritten und so dürfen wir die goldgelbe Laubfärbung in vollster Pracht genießen. Welch' ein bezaubernder Anblick! Der Winter liegt förmlich in der Luft und auch ein Schwarzbär will sich noch einmal mit einem Beeren-Mahl den Bauch vollschlagen. Drei Stunden brauchen wir im Fahrzeug für den Rückweg und ich bin den Dreien dankbar, dass sie mich auf diesen schönen Ausflug mitgenommen haben. Ohne den Einblick in diese Seite des Parks hätte ich ein völlig falsches Bild von diesem Nationalpark bekommen. Hier gibt es sie also, die tollen Wanderwege, von denen ich im Vorfeld so viel gelesen habe. Ich muss nur einfach noch einmal im Sommer herkommen.
Am nächsten Morgen geht es wieder raus aus dem Park, der heute am 30. September endgültig seine Gebäude für die Wintersaison schließt. Nochmals stoppe ich in „Columbia Falls“, wo ich vor drei Tagen schon einmal war, und entdecke im Internet ein warmshower-Pärchen in der Nähe von „Whitefish“. „Linda“ und „Tim“ nehmen mich kurz darauf herzlich in Empfang und ich bin froh darüber, dass ich heute nicht ganz so weit fahren muss, denn die acht Stunden wandern vom Vortag stecken mir doch ein wenig in den Waden.
Nach einem heißen Kaffee geht es los. Morgens brauche ich nun meine Regenjacke als Windschutz vor der Kälte. So langsam muss ich auch über eine lange Hose nachdenken. Die ersten Stunden sind sehr frisch. In „Whitefish“ decke ich mich im Supermarkt mit allem Notwendigen ein und mache mich auf den Weg zum „Red Meadow Lake“. Zunächst führt die Strecke auf Asphalt am See entlang und biegt wenig später auf Schotter ein. Es geht steil bergauf und ich raste gerade in der Sonne am Seitenrand, als mir „Nick“ aus England entgegen kommt. Vor wenigen Wochen ist er in „Prudhoe Bay“, Alaska gestartet. Genau dem Ziel, welchem ich seit nun beinahe zwei Jahren entgegen radle. Das Schwätzchen tut gut und beide bedauern wir, dass wir in entgegengesetzte Richtungen davon fahren müssen. Alaska wäre einfach nur toll, doch ich für eine Fahrt in den hohen Norden zu spät dran. Das sollte ich mir lieber für den Frühling im nächsten Jahr aufheben. Genau das habe ich ja auch vor. Eine Winterpause in Kanada, um dann mit dem ersten schönen Wetter in 2013 wieder loszufahren.
Die Nacht am See, an dem ich ganz alleine bin, wird stürmisch. Teilweise kann ich wegen des Windes, der mit voller Wucht gegen meine Zeltwand peitscht, kaum schlafen. Immerhin ist es nicht allzu kalt am Morgen, denn zunächst erwartet mich eine Talabfahrt. Die „North Fork Road“ befindet sich in schlechtem Straßenzustand. Große Steine sorgen hier für langsames Vorankommen und dann geht es auch schon wieder bergauf. Das „Whitefish Divide“ steht an. Mit der ansteigenden Höhe wird es immer kühler. Am Pass sind es trotz Sonne und Mittagszeit 15 °C. Wenig später fängt es an zu „tröpfeln“ - von richtigem Regen werde ich aber zum Glück verschont.
Nach 100 km erreiche ich „Eureka“, meiner letzten Station in den USA. Zelten kann ich hier am Fluss, wo auch ein paar Picknicktische stehen. Im Sommer würden hier regelmäßig Radfahrer übernachten, verrät mir eine Frau im Supermarkt. Mein Zelt steht dagegen heute einsam und verlassen auf der großen Grasfläche. Wahrscheinlich bilde ich auch hier das Abschlusslicht der Camping-Saison.
Morgen werde ich die Grenze nach Kanada überqueren. Nach 3 Monaten und 6 Tagen heißt es dann Abschied nehmen von den USA. Zumindest vorläufig, denn Alaska kommt ja noch im Sommer des nächsten Jahres.
Riesige, protzige Autos - eine Fastfood-Kette hinter der anderen – dicke, oberflächliche Menschen, die jeden Kleinstbetrag mit ihrer Kreditkarte bezahlen.
Wer kennt sie nicht? Die Klischees über „Amerikaner“.
Natürlich lässt sich das ein oder andere bestätigen. Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten sind die Entfernungen riesig. Dementsprechend haben viele auch große, Benzin schluckende Fahrzeuge. Viele Häuser sind im Vergleich zum deutschen Standard kleine Paläste. Fastfood-Ketten habe ich in den Städten tatsächlich an jeder Ecke gesehen. Einige Menschen sind stark übergewichtet, doch es gibt auch das genaue Gegenteil. Vor mir im Supermarkt wurde das Kaugummi wirklich mit der Kreditkarte bezahlt. Undenkbar für einen Centbetrag in Deutschland. Doch „Viele“ trifft noch lange nicht für „Jeden“ zu. Erst hier in den USA habe ich gesehen, was es alles für Sport-Möglichkeiten in der freien Natur gibt. Der Markt an „Outdoor“-Equipment erscheint mir unermesslich und gerade auf dem „Great Divide Trail“, der mich entlang der Rocky Mountains durch Colorado, Wyoming und Montana geführt hat, bin ich auf viele Sport und Abenteuer begeisterte Menschen gestoßen. Mehr als ich zu Hause am deutschen Niederrhein jemals angetroffen hätte.
Was mich vielleicht am meisten gestört hat ist die Ess-Kultur im Land. Hier kann man nicht mit seinen Freunden gemütlich in ein Restaurant gehen, um einen schönen, gemeinsamen Abend zu verbringen. Hier wird ins Restaurant gegangen um zu essen. Hat man gerade den ersten Schluck aus seinem Glas genommen, kommt der Kellner mit kostenlosem „Re-Fill“ (wieder auffüllen) vorbei und die Rechnung wird einem noch bevor man den letzten Bissen hinunter gebracht hat auf den Tisch geknallt. Ja, so habe ich es tatsächlich erlebt und vermeide nun jeden weiteren Restaurant-Besuch.
Trotzdem: das Land ist großartig! Die Nationalparks bieten eine Vielfalt, die wohl von kaum einem anderen Platz auf dieser Erde überboten werden kann. Die Möglichkeiten sind endlos, man muss nur hinausgehen und sich auf den Weg machen.
Morgen werde ich nach Kanada einfahren - mal schauen was der große Nachbar so alles zu bieten hat.
Während ich mein USA-Fazit ins Tagebuch schreibe trommelt der Regen schon seit ein paar Stunden auf mein Zeltdach und wiegt mich in einen festen Schlaf. Am nächsten Morgen stelle ich fest, dass es nur hier unten auf einer Höhe von 600 Metern geregnet hat. In den Bergen fiel der erste Schnee der Saison! Wie feiner Puderzucker hat er sich auf den Berggipfel gelegt. Die Sonne wird ihn in wenigen Stunden wieder zum Schmelzen bringen, doch es wird auch nicht mehr lange dauern, bis er endgültig liegen bleibt.
Auf zur Grenze nach „Roosville“. Nun will ich schnell nach Kanada fahren und wundere mich über das Grenzgebäude, das auf mich eher nach einem „Drive-In-Schalter“ eines Nationalparks wirkt.
Woher? Wohin? Warum will ich nach Kanada einreisen? Wie lange gedenke ich zu bleiben? Verfüge ich auch über genügend finanzielle Mittel, um meinen Aufenthalt finanzieren zu können? Habe ich eine Waffe dabei? Die Frau am Schalter bombardiert mich geradezu mit ihren Fragen.
Auch meine mitgeführten Äpfel und Bananen notiert sie auf einem gelben Zettel, den sie im Anschluss an ihre Kollegin weiterreicht. Ich bin der „Problemfall“ des Tages und das soll ich in den folgenden Minuten, die sich bald zu einer ganzen Stunde verwandeln, auch zu spüren bekommen. Mein Rad muss ich erst einmal um die Ecke abstellen und persönlich ins Gebäude kommen. Dort befassen sich dann gleich drei voluminöse Beamtinnen mit mir. Ich brauche sechs Monate Aufenthalt, da ich doch den gesamten Winter in Kanada verbringen möchte. Mir mangelt es jedoch an einem gültigen Rückflugticket oder dem schriftlichen Beweis, dass sich genügend Geld auf meinem Konto befindet. Ein Flugticket habe ich natürlich nicht, denn ich will das Land ja mit dem Fahrrad durchqueren. Hätte ich nur vorher an einen Kontoausdruck gedacht… Hier in ihrem Büro hat man zumindest heute angeblich keinen Internetzugang und so kann ich den Grenzbeamtinnen auch nichts Schriftliches vorlegen. Ich will ihnen schon die Telefonnummer meiner Eltern durchgeben, doch das wollen sie wiederrum auch nicht. Die Frau stellt immer wieder die gleichen Fragen und so langsam werde ich davon richtig genervt. Ich kann meine Finanzen hier und jetzt nicht vorlegen, wenn es kein Internet gibt und das wird sich auch nicht ändern lassen, wenn sie die Verbindung nicht herstellen können.
Nach langer Beratung mit ihren Kollegen stempelt sie mir dann endlich sechs Monate Aufenthalt in den Reisepass. Ich weiß nicht, ob ich mich darüber jetzt laut freuen oder besser einfach nur davonfahren soll. Ach ja – ich will ja meine Trinkflaschen noch schnell auffüllen, bevor es weitergeht. Das Kranwasser sei mit Bakterien versetzt und dürfe hier nicht getrunken werden. Die Straße runter gäbe es aber eine Tankstelle, da könnte ich Trinkwasser kaufen. Ich traue mich schon gar nicht mehr zu fragen, ob sie mir nicht etwas aus ihrem riesigen, gefilterten Wassercontainer, der mitten im Büro steht, abgeben könne und verlasse diese Grenzstation. Am liebsten würde ich die Tür laut hinter mir zuschlagen. Da fahre ich fast 2 Jahre durch ganz Süd-, Zentral- und Nordamerika und bekomme ausgerechnet an der Grenze von den USA nach Kanada solche Schwierigkeiten. Ich kann es nicht fassen!
Aber immerhin bin ich nun da: „Welcome, British Columbia, Canada“ heißt es auf dem folgenden Schild und die strapaziöse Einreise ist mit Vorfreude auf ein neues Land schon wieder verflogen.
Comments